Mannheim/Saarbrücken – Die Doppelbesteuerung der Rente erhitzt weiterhin die Gemüter – und verunsichert Rentenbeziehende. Heinrich Braun, Steuerberater aus Mannheim, hat sich darauf spezialisiert, die Frage der Doppelbesteuerung der Altersvorsorge zu analysieren und gerichtlich dagegen vorzugehen. Gemeinsam mit Finanzmathematiker Klaus Schindler setzt er sich für Senior:innen ein. Schindler, der früher an der Universität Saarbrücken lehrte, hat eine Formel entwickelt, die zeigt, welcher Belastung Menschen im Ruhestand durch die Doppelbesteuerung ihrer Rente ausgesetzt sind.
Im Interview mit fr.de sagen Braun und Schindler, die Finanzämter versuchten, Rentenbeziehende zu täuschen und um ihr Recht zu bringen. Außerdem stellt Braun einen Mustereinspruch zur Verfügung, den Rentner:innen nutzen können, um gegen die Doppelbesteuerung vorzugehen.
Doppelbesteuerung der Rente: Sie ist laut Experte verfassungswidrig
Herr Braun, Sie sind der Ansicht, dass es bei der Rente in Deutschland zu einer Doppelbesteuerung kommt. Woran machen Sie das fest?
Heinrich Braun: Das ergibt sich daraus, dass die Besteuerungsanteile in der Einzahlungsphase und die Anteile in der Auszahlungsphase nicht aufeinander abgestimmt wurden. Es ist verboten, was während des Arbeitslebens besteuert wurde, im Ruhestand erneut zu besteuern. Deshalb ist das von der Rürup-Kommission aufgestellte System seit 2005 verfassungswidrig. Seit 15 Jahren streiten sich die Finanzämter bereits mit den Bürger:innen. Auch in der Fachliteratur wird die Doppelbesteuerung der Rente schon lange diskutiert.
Klaus Schindler: Ich liefere Ihnen ein kleines Beispiel. Bei einem Renteneintritt 2020 und 35 Jahren Beitragszeit, Beitragsbeginn also 1985, liegt der Besteuerungsanteil der gesamten Rentenbeiträge bei etwa 40 %. Im Gegensatz dazu sind in der Phase der Auszahlung nur 20 % des Renteneinkommens steuerfrei. Stattdessen müsste der Betrag bei 40 % liegen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Doppelbesteuerung vorliegt.
Wie viele Rentner:innen sind von der Doppelbesteuerung in Deutschland betroffen?
Schindler: Nach unserer Berechnung fällt die Doppelbesteuerung mindestens für Rentner:innen an, die ab dem Jahr 2005 in den Ruhestand gehen. Zu diesem Zeitpunkt ist sie noch relativ gering, steigt aber schnell immer weiter an und erreicht in den Renteneintrittsjahren 2022 – 2023 ihren Höchstsatz von 20 bis 23 % und zwar ungerechterweise um so höher, je größer die Zahl der Beitragsjahre ist.
Erst ab dem Jahr 2070 werden die ersten Senior:innen nicht mehr doppelt besteuert. Für mich als Finanzmathematiker ist diese Konstruktion abenteuerlich. Die Gesetzesänderung im Jahr 2005 brauchte es übrigens, weil das Bundesverfassungsgericht festgestellt hatte, dass die bisherige Praxis verfassungswidrig war. Leider wurde das Gesetz rückwirkend zum Nachteil der Rentner:innen verändert.
Zu den Personen
Heinrich Braun ist Steuerberater und führt eine Kanzlei in Mannheim. Er gilt als Experte für Rechtsschutz in Steuerangelegenheiten, Vollstreckungsabwehr, Steuerstrafrecht und Finanzgerichtsverfahren. Braun hat sich darauf spezialisiert, Finanzämter zu verklagen. Die mittlerweile geltende Vierjahresfrist für die Steuerklärung hat er übrigens vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erstritten.
Klaus Schindler hat von 1987 bis 2019 Finanzmathematik an der Universität Saarbrücken gelehrt und ist außerdem Spezialist für Derivate. Schindler hat eine Formel entwickelt, die nachweisen kann, dass es zu einer Doppelbesteuerung der Rentner:innen in Deutschland kommt. Zusammen mit Heinrich Braun hat der Finanzmathematiker bereits in der steuerrechtlichen Fachzeitschrift NWB Aufsätze verfasst.
Doppelbesteuerung der Rente mit Formel ausrechnen
Herr Schindler, bereits der Saarländische Rundfunk hatte darüber berichtet, dass sie die Doppelbesteuerung der Rente mathematisch nachgewiesen haben. Können Sie Ihre Formel für einen Laien erläutern?
Schindler: Nehmen wir an, dass Senior:innen angefangen haben, 1980 in die Rentenkasse einzuzahlen. Von 1980 bis 2004 wurden 50 % der Rentenbeiträge versteuert. Ab 2005 hat die bereits angesprochene Systemänderung eingesetzt und es waren nur noch 40 % zu versteuern. Dieser Besteuerungsanteil wird dann in den nachfolgenden Jahren in 2 %-Schritten bis ins Jahr 2025 auf 0 % schrittweise abgesenkt.
Betrachtet man nun einen Eckrenter, also einen Durchschnittsrentner, der jedes Jahr in der Rentenversicherung genau einen Entgeltpunkt erwirbt, so kann mithilfe des Rentenbescheides genau ausrechnen, wie hoch der besteuerte Anteil der Rentenbeiträge ist.
Diesen Anteil müssen Sie mit ihrem Steueranteil Ihrer Rente vergleichen. Wenn sie also 40 % in ihrer Einzahlungsphase versteuert haben, dann müssen 40 % in der Auszahlungsphase logischerweise steuerfrei seien. Wenn das nicht der Fall ist, liegt eine Doppelbesteuerung vor.
Senior:innen können sich das natürlich auch von einem Spezialisten ausrechnen lassen. Die erforderlichen Daten können dem Rentenbescheid der Deutschen Rentenversicherung entnommen werden.
Wie hoch ist der Betrag, den die Finanzämter ihrer Meinung nach von den Rentner:innen in Deutschland zu Unrecht doppelt abkassieren?
Braun: Bei einem Durchschnittsrentner sind das zwischen 1000 und 1100 Euro pro Jahr. Bei 20 Millionen Rentner:innen entspricht das etwa 20 Milliarden pro Jahr, die der Staat ungerechtfertigt abkassiert. Die Belastung der Senior:innen entsteht also in der Einzahlungsphase.
Schindler: Wenn man es den Rentner:innen wie Beamten erlaubt hätte, ihre Beiträge von der Steuer abzusetzen, dann wäre das Problem gar nicht erst nicht entstanden. Das Ergebnis wäre natürlich ein massiver Steuereinbruch gewesen, aber man befand sich selbstverständlich in einer Zwickmühle.
Braun: Die Regierung Gerhard Schröders befand sich vermutlich in Geldnot. Allerdings hat dieses System, das eigentlich einen schleichenden Übergang bringen sollte, die Doppelbesteuerung erst hervorgerufen.
Schindler: Für mich als Arbeiterkind ist es heftig zu sehen, dass die Rentenbeiträge erneut besteuert werden. Das war für mich einer der Gründe, um mein Know-how einzusetzen und gegen das System vorzugehen.
Musterverfahren gegen Doppelbesteuerung: Wird Besteuerung der Rente gekippt?
Herr Braun, Sie vertreten bereits mehrere Rentner:innen, die gegen die Doppelbesteuerung Einspruch eingelegt haben. Was versprechen Sie sich von diesen Musterverfahren?
Braun: Wir versprechen uns, dass die Besteuerung der Rente in dieser Art und Weise gekippt wird. Wenn sie verfassungswidrig ist, erhält der Gesetzgeber nämlich die Aufgabe, das System zu reparieren. Vernünftigerweise würde jemand so lange keine Steuern auf seine Rente zahlen, bis er seine besteuerten Einzahlungen vollständig erhalten hätte. Rentner:innen tragen ja auch das Risiko eines frühen Todes.
In einem aktuellen Aufsatz in der NWB werfen Sie den Finanzämtern vor, dass Sie Senior:innen „arglistig täuschen“ und aus dem Verfahren drängen möchten.
Braun: Im deutschen Steuerrecht gibt es im Gegensatz zum Zivilrecht keine Sammelklagen, wie sie der breiten Masse im Dieselskandal bekannt wurden. Allerdings können sich Rentner:innen kostenlos an bestehende Musterverfahren anschließen. Dafür müssten sie lediglich Einspruch einlegen, was übrigens auch kostenlos ist. Dadurch könnten die Senior:innen im Erfolgsfall ihre zu viel gezahlten Steuern zurückerstattet bekommen. Im Augenblick wird das dadurch ausgehebelt, dass das Bundesfinanzministerium mit den Ländern eine Absprache getroffen hat, um sie aus dem Verfahren herauszudrängen. Das ist eine Aushöhlung des Rechtsschutzes.
Doppelbesteuerung: Finanzämter wollen Rentner:innen aus Verfahren drängen
Was meinen Sie damit?
Braun: Die Finanzämter sind eigentlich dazu verpflichtet, eine Verfahrensruhe anzuordnen, um den Bürger:innen ihre Rechte zu lassen. Das bedeutet, dass man beispielsweise so lange keine Steuern zahlen muss, bis eine endgültige Entscheidung vorliegt. Derzeit werden massenhaft Verzichtsschreiben versandt. Finanzämter fordern Senioren zusätzlich dazu auf, die Doppelbesteuerung auszurechnen. Dazu sind die Behörden aber selbst nicht in der Lage. Dabei wird das gerade erst in einem Musterverfahren geklärt.
Im Gesetz ist es nämlich überhaupt nicht vorgesehen, das zu beweisen. Es genügt vielmehr, sich dem besagten Musterverfahren anzuschließen. In dem Schreiben ruft man die Rentner:innen dazu auf, den Einspruch zurückzunehmen und auf Rechte zu verzichten. Es wird also massiv psychologischer Druck ausgeübt.
Schindler: Als Laie bin ich nur dazu verpflichtet, grundlegende Daten anzugeben. Das haben auch die Rentner:innen getan. Die Aufgabe der Finanzämter wäre es, Berechnungen anzustellen. Ich kann doch jetzt nicht hingehen und sagen, rechne das vor. Das Finanzamt ist wegen anhängiger Musterverfahren verpflichtet, die Einsprüche ruhen zu lassen
Steuerberater Braun über Finanzämter: „Arglistige Täuschung“
Braun: Wir haben es mit einer arglistigen Täuschung zu tun, die faktisch den Rechtsschutz aushebelt.
Schindler: Besondere perfide daran ist die Tatsache, dass die Finanzämter Steuerunterlagen verlangen, die selbst nicht mehr in ihren Akten haben.
Braun: Ein normaler Mensch hebt seine Steuerbescheide keine 40 Jahre auf. Man hat keine Pflicht, einen Steuerbescheid aufzuheben. Das Finanzamt macht das übrigens auch nicht. Höchstens für 15 bis 20 Jahre. Außerdem liegen die Daten bei der Deutschen Rentenversicherung. Von keinem Finanzamt ist uns ein Rechenmodell bekannt und ich habe mehrere hundert Menschen betreut.
Schindler: Wir warten auf irgendeine Berechnung.
Warum rührt sich das Finanzamt nicht?
Braun: Man spielt auf Zeit, um die Rentner:innen hinzuhalten.
Renten-Doppelbesteuerung: Steuerberater Braun verklagt Finanzministerium
Herr Braun: Sie haben das Bundesfinanzministerium vor dem Verwaltungsgericht Berlin verklagt. Weshalb genau?
Braun: Nachdem rund eine halbe Million Rentner:innen Einsprüche gegen ihre Bescheide eingelegt hatten, hat sich das Bundesfinanzministerium koordiniert. In einer Sitzung gab es Mitte 2020 eine interne Absprache. Als ich mich erkundigt hatte, wurde mir gesagt, dass man das geheim halten möchte, was die Sache noch pikanter macht.
Bei militärischen Einrichtungen ist das verständlich. Das Steuerrecht muss allerdings jedem zugänglich sein. Es kann für das Bundesfinanzministerium nicht angehen, dass es geheime Absprachen gibt, die die Bürger:innen entrechten sollen. Daher habe ich auf Aufdeckung dieser Absprache geklagt. Ich schreibe ja auch Aufsätze zur Doppelbesteuerung der Rente. Außerdem ist das Thema von breitem, öffentlichen Interesse.
Das Bundesfinanzministerium lehnt ihren Auskunftsausspruch ab, leugnet aber nicht, dass es eine Niederschrift dieser Sitzung gibt. Stattdessen heißt es, dass es kein Schreiben gebe, „das bundesweit ergeht“.
Braun: Das Bundesfinanzministerium kann es drehen und wenden wie es möchte. Tatsache ist aber, dass man als Rentner von allen Finanzämtern das gleiche Schreiben zugeschickt bekommt, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe.
Schindler: Komisch übrigens, dass das Recht zur Geheimhaltungsabsprache im Transparenzgesetz steht (lacht).
Wie bewerten Sie das Rentensystem insgesamt?
Braun: Aktuell rückt die Altersvorsorge gegenüber der Corona-Pandemie in den Hintergrund. In normalen Zeiten hat die Rente meiner Meinung nach Thema Nummer eins zu sein, weil alle Menschen betroffen sind. Das System ist nämlich am Kippen.
Schindler: Es kann ja auch nicht sein, dass die Herren Berater Rürup und Riester das eigentlich zu dünn ausgebaute System bereichern sollten und man nach 15 Jahren feststellt, dass die nur mit den Versicherungen geklüngelt haben. Das ganze Rentenkonzept kann man nur als gescheitert ansehen.
Finanzmathematiker Klaus Schindler: „Unser Staat besteuert Altersarmut“
Braun: Nur die Versicherungswirtschaft hat profitiert, nicht die Bürger:innen. Wir brauchen in Deutschland dringend Reformen, sonst ist das Leistungsprinzip ausgehebelt, denn man schafft es ohne Zinsen nicht mehr, Geld anzusparen.
Schindler: Nicht ohne Grund ist die Angst vor der Altersversorgung Realität.
Braun: Der Staat redet von Altersarmut und hat sie selbst geschaffen. Es ist ganz schwer zu akzeptieren, wie das System immer mehr an die Wand gefahren wird.